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Der Tourismus durchlebt einen radikalen Wandel

Perspektiven für die Zeit nach Corona
Tirol Werbung. St. Johann, Sonnseitwanderung
Anfang Dezember fand die Fachtagung der Südtiroler Hoteliers- und Gastwirtejugend (HGJ) und des Center for Advanced Studies von Eurac Research statt. Dabei ging es um die derzeitige Situation des Südtiroler Tourismus und um die Frage, wo und wie Reisen zukünftig aussehen werden.

Die Fachtagung des HGJ fand am 04.12.2020 als Zoom-Konferenz statt. Wir haben die wichtigsten Ergebnisse kurz für Sie zusammengefasst.

Gen Z: Nachhaltigkeit und die Angst vor Overtourism

Nach kurzen Grußworten präsentierten Felix Windegger und Harald Pechlaner eine - nicht repräsentative - Studie unter Südtiroler SchülerInnen, welche im Frühjahr durchgeführt wurde. Dabei ging es um den Blick in die Welt der Reisenden von morgen. Diese zeigt, dass ...

  • … das Thema Nachhaltigkeit und nachhaltig Reisen bei den SchülerInnen angekommen ist. 

  • … die Verantwortung als Gast und Reisende/r sowie das Bewusstsein über die Auswirkungen des Reisens in Zukunft an Bedeutung gewinnt.

  • … kleine, inhabergeführte Betriebe anstelle von großen Hotelketten bevorzugt werden.

  • … der Wert von unberührter Landschaft weiter wächst, Overtourism als negative Assoziation immer präsenter und zu einem zentralen Faktor für die Destinationswahl wird. 

  • … ein deutlicher Trend zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel (Bahn & Bus) entsteht sowie die Forderung zur Umstellung traditioneller Transportmittel auf nachhaltige Systeme wächst.

  • Flugreisen zu einem gewissen Teil mit Scham behaftet sein werden und dadurch die Tourismuswirtschaft verändern werden.

  • … in der Gastronomie lokale Produkte zur Selbstverständlichkeit werden ebenso wie vegane/vegetarische Speisen und plastikfreie Verpackungen. 

  • … erwartet wird, dass sich Beschäftigungszeiten in Beherbungs- und Gastronomiebranche sich auf eine 5-Tage-Woche reduzieren werden. 

  • … der Einsatz von digitalen Assistenten in Unterkünften durchaus vorstellbar ist, eine Automatisierung jedoch starke Ablehnung erfährt, da man nicht auf menschliche Interaktion verzichten möchte.

  • … die Covid-19-Krise auf persönlicher Ebene kurzfristig beeinflusst, auf gesellschaftlicher Ebene allerdings Denkanstöße setzt und langfristige Veränderungen bewirken wird.

Auch AktivistInnen fliegen in den Urlaub

Leonie Bremer, die Pressesprecherin von Fridays for Future Deutschland, stellt in ihrem Statement klar, dass Reisen für ihre Generation einen hohen Stellenwert hat - es bildet und verändert einen Menschen. Bremer erklärt, dass FFF AktivistInnen zu 90% SchülerInnen sind, die zum einen nicht selbst über ihr Urlaubsziel entscheiden und sich zum anderen klimaneutrales Reisen überhaupt nicht leisten können. An dieser Stelle betont Bremer, dass nicht gegenseitiges Verurteilen die Lösung sei und verweist auf die Verantwortung der Politik. Die Politik sei zu verurteilen, denn sie bringe einen in das Dilemma: Klima oder Urlaub? FFF Deutschland sagt:

“Klimafreundliches Reisen ist zu teuer und die Politik setzt die falschen Reize."

Um das Pariser Abkommen zu erfüllen, müssten mindestens die Hälfte aller Autos klimaneutral umgerüstet werden, Inlandsflüge gestrichen und Langstreckenflieger klimaneutral werden. Gesellschaftlich und technisch sei dies alles möglich, am Zuge sei nun die Politik.

In Zukunft lebt der Resonanztourismus

Harry Gatterer, Geschäftsführer des Zukunftsinstituts, definiert Zukunft als "Vorstellung einer Zeit, die noch nicht passiert ist" - sie existiert nur in unseren Köpfen. Hierbei wird das Gewohnte zu etwas, das in der Zukunft vorstellbar und gewollt ist. Corona habe uns allerdings gezeigt, dass gewohnte Dinge nun nicht mehr funktionieren. 

An welche Zukunftsvorstellung können wir uns gewöhnen? Gatterer erklärt: An eine Zukunftsvorstellung, die seit Jahrzehnten gereift ist, eine emotionale Bedeutung und einen Sinn für uns hat. Der Planet und nachhaltiger Umgang mit ihm sei hier eine schlaue Entscheidung.

Was hat das mit Tourismus zu tun? Sehr viel, so Gatterer. Die Grundlage stellt hier die Gesellschaft und ihrer Sehnsüchte dar. Reisen muss ein gutes Gefühl bei den Menschen auslösen. Im letzten Jahrzehnt wurde dies durch Inszenierung erzeugt: Erlebniswelten auf Bergstationen, Wanderpfade wurden zu Erlebnispfaden, Hotelkonzepte auf bestimmte Themenwelten abgestimmt. Mittlerweile ist der Mehrwert durch Erlebnisinszenierung erschöpft, es ist so viel geworden, dass gewisse Grenzen erreicht sind.

Die Corona-Krise hat sichtbar gemacht, dass sich die Menschen nach Resonanz sehnen - nach Erfahrungen, die zu innerer Ruhe führen und Verbindungen zu sich selbst und der Welt spürbar machen. Diese Sehnsüchte machen Resonanz auch für den Tourismus zum Thema. Und hierbei gibt es laut Gatterer kein klassisches Konzept, das sich einfach anwenden lässt. Resonanz ist als eine Haltung im Team notwendig, in dem man sich gegenseitig ernst und wahrnimmt.

“Jetzt ist die Zeit für etwas Neues, die Zeit um Spuren zu hinterlassen.”

Gatterer hält fest: Durch Corona wurde uns ein Momentum aufgezwungen. Die Krise dauert länger als gedacht und hat sich mittlerweile zu einer transformierenden Episode gewandelt. Diese Zeit sollte unbedingt von UnternehmerInnen genutzt werden, denn Innovationen können jetzt nachhaltig implementiert werden. Für den Tourismus heißt das konkret: Beim Reisen muss der Mensch wieder ins Zentrum gestellt werden.

Die Qualität der Begegnung von Gastgebern wird zählen 

Brigitte Zelger, Hotel-Pfösl-Chefin, berichtet von den Themen, mit denen sich Südtiroler Beherbergungsbetriebe in den letzten Monaten auseinandergesetzt haben. Viele Betriebe machen sich Gedanken über ihre Weiterentwicklung und Strategie. In der Corona-Krise sieht Zelger nur den Auslöser für all das, was die Betriebe in Zukunft erwarten wird. Laut ihrer Meinung wird Nachhaltigkeit in Zukunft nicht mehr nur ein Nice-to-have sein, sondern muss eine Haltung werden und gemeinsam mit MitarbeiterInnen und Gästen gestaltet werden. Zelger sieht unter den Wünschen der Gäste nicht mehr nur quantitative Angebote, sondern insbesondere die Qualität der Begegnung. GastgeberInnen müssen stärker auf die Bedürfnisse der Gäste eingehen und sich die Frage stellen: Was will der Gast? Warum kommt er (erneut) zu uns? Qualität in Südtiroler Produkten ist bereits ausreichend vorhanden, Qualität in der Gastfreundschaft ist für Zelger das zentrale Thema. So schließt sie mit folgenden Worten ab:

“Wir müssen den Gästen das Gefühl geben, dass sie bei uns angekommen sind und sich bei uns wohl fühlen können.”

Digitalisierung darf nicht gebremst werden 

Johanna Huber, Jung-Hotelierin des Hotel Pacher, ist eindeutig für die Digitalisierung, denn diese bietet eine enorme Unterstützung in der Organisation von Daten, die letztendlich die Kommunikation mit Gästen erleichtert. Ihrer Ansicht nach sollte die digitale Bewegung nicht gebremst werden. Durch die Pandemie werde jede/r gezwungen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und sollte dies unbedingt annehmen. In der Beherbungsbranche sollte die Digitalisierung dazu genutzt werden, dem Gast ein personalisiertes Angebot zu schaffen. Letztlich betrachtet Huber persönlichen Kontakt als den wahren Luxus der Zukunft.

Mit Corona konnten wir nicht rechnen - mit dem Klimawandel schon

Zeno Oberkofler, Fridays for Future Südtirol, bringt es auf den Punkt: “Corona hat uns alle überrascht, aber mit der Klimakrise können und müssen wir rechnen.” Er sieht bei jedem die Verpflichtung, nicht nur umzudenken, sondern auch anders zu handeln. Es stellt sich somit die Frage, wie wir unseren Tourismus weiter entwickeln wollen, damit er auch in Zukunft für Menschen attraktiv ist. Oberkofler weist auf den betriebswirtschaftlichen Aspekt hin:

“Es muss sich lohnen, klimafreundlich zu reisen und zu wirtschaften.”

Er berichtet , dass der Großteil der Emissionen in Südtirol durch den (Reise-)Verkehr entstehen und weist auf das Problem der Kurzstreckenflüge in Europa hin. Weshalb werden Flugreisen durch die Politik subventioniert und Bahnreisen nicht? Bei innereuropäischen Reisen sowie Geschäftsreisen sollte auf Fliegen verzichtet werden, so Oberkofler.

"Wir haben es alle selbst in der Hand, im Beruf oder ehrenamtlich, gesellschaftliche Diskurse auf die Agenda bringen. Die Gesellschaft ist bereit, wir müssen diesen Wandel hinbekommen."

Unser Fazit

Während der Fachtagung zeigte sich ein Trend zur Entschleunigung, zu nachhaltigerem Reiseverhalten, weniger Flugverkehr, eine höhere Nutzung von Öffis, mehr Regionalität und mehr Menschlichkeit. An sich geben die Ergebnisse dieser Fachtagung Hoffnung. Ob sich wirklich so viel bzw. so schnell ändern wird, wird sich zeigen. Erfahrungsgemäß verändern Menschen ihre Lebensgewohnheiten nicht gern und auch Studien belegen, daß selbst Reisende, welche unterwegs nachhaltiger handeln wollen, häufig daran gehindert werden. Ja, das Thema ist inzwischen zum Glück sehr präsent, aber bis zur Verhaltensänderung ist es noch ein weiter Weg. Somit wird sich zeigen, was von Covid-19 und dem großen Wandel schlussendlich übrig bleiben wird. Jetzt ist die Zeit für Veränderungen - es liegt nun an uns, als UnternehmerInnen und als Reisende Veränderungen in unseren Einstellungen und unserem Verhalten einzuleiten.

Hier können sie die gesamte Fachtagung nochmals nachsehen:

Titelbild: Tirol Werbung

Datum: 09.12.2020

 

Dr. Birgit Bosio

Forschungsschwerpunkt
Tourismustrends, Service Design, Customer Experience, Alpiner Tourismus, Nachhaltigkeit & Tourismus
Position bzw. Aufgabe
Hochschullektorin

Birgit Bosio hat den ersten Diplomjahrgang des MCI Tourismus absolviert und anschließend zwei Jahre in der Marktforschung der Tiroler Werbung gearbeitet. Gemeinsam mit Hubert Siller (MCI) und Michael Brandl (ehemals TW) zeichnet sie für die Entstehung des TTR verantwortlich. 2016 hat sie an der Universität Salzburg promoviert.

“Die Arbeit mit dem TTR ist spannend, da man sich täglich mit neuen Entwicklungen & Trends beschäftigen und ständig am Ball bleiben muss. Gleichzeitig stellt es aber dauernd eine Herausforderung dar, dem Nutzer diese Informationen kundengerecht und in der richtigen Dosis interessant aufzubereiten.”

Im TTR Team seit: November 2006

Zuständig für: Strategie & Konzeption, Tourismusforschung, Content Management, Social Media

Denise Fecker MSc

Forschungsschwerpunkt
Wintersporttourismus, Leadership, Mitarbeiterbindung, Organizational Commitment, New Work
Position bzw. Aufgabe
PhD Studentin

Denise Fecker hat ihren Bachelor in "Mehrsprachige Kommunikation" sowie den Master "Markt- und Medienforschung" an der TH Köln absolviert. Zudem hat sie praktische Erfahrung in einem Kölner Marktforschungsinstitut gesammelt und arbeitet nebenher als Skilehrerin.

"Der TTR als Gesicht der Tiroler Tourismusforschung bringt allen Tourismus-Interessierten spannende Einblicke in aktuelle Themen in ganz Tirol. Um für Tiroler Entscheidungsträger stets fundiertes Wissen bereitzustellen, steht der TTR im ständigen Austausch mit Praxis und Wissenschaft, sodass es immer wieder Neues zu entdecken gibt."

Im TTR Team: seit August 2020

Zuständig für: Inspiration & Tourismusforschung